Sie wollen nicht heiraten – weil es sich nicht rechnet
Viele verstehen Heiraten als romantische Geste. Doch beginnen Paare zu rechnen, verfliegt die Romantik schnell. Noch immer zahlen Verheiratete deutlich mehr Steuern als Konkubinatspaare. Die Heiratsstrafe verärgert von links bis rechts, von Jung bis Alt. Insbesondere jene, die sich vertieft damit auseinandersetzen. Wie Andrea Opel und Karin Stadelmann.
«Wir würden gerne heiraten, doch es ist in der Tat die Heiratsstrafe, die uns davon abhält», sagt Opel. Sie ist Professorin für Steuerrecht an der Universität Luzern.
«Ich finde es unfair, dass verheiratete Paare steuerlich benachteiligt werden. Ich möchte aus Liebe heraus entscheiden, zu heiraten, und nicht aus finanziellen Gründen abwägen müssen», sagt Karin Stadelmann, Politikerin der Mitte.
Beide sind seit Jahren in einer Beziehung – und unverheiratet.
Wie ihnen ergeht es vielen. «Eine um 1 Prozentpunkt höhere Heiratssteuer (gemessen am Nettohaushaltseinkommen) reduziert die Wahrscheinlichkeit, dass ein Paar verheiratet ist, um 13,7 Prozent», sagt Nadia Myohl. Die Ökonomin hat vor einem Jahr an der Universität St. Gallen eine Studie zum Effekt der Heiratsstrafe publiziert. Die Abschreckung sei besonders bei Paaren ohne Kinder gross – sowie bei jenen mit tiefem Haushaltseinkommen.
Seit Mitte der 80er-Jahre, als das Bundesgericht die Heiratsstrafe als verfassungswidrig eingestuft hatte, gab es zahlreiche politische Anläufe, sie zu beseitigen. Ohne Erfolg. Zwar haben die Kantone zahlreiche Massnahmen eingeführt, um die Differenz zwischen verheirateten und unverheirateten Paaren bei den Kantons- und Gemeindesteuern auf unter 10 Prozent zu reduzieren; diesen Schwellenwert definierte das Bundesgericht als höchstzulässige Differenz. Auf Stufe Bundessteuern zahlen Verheiratete aber immer noch deutlich mehr.
Wie Myohl berechnet hat, beträgt die Heiratsstrafe für alle Verheirateten im Erwerbsalter durchschnittlich 868 Franken pro Jahr. Verheiratete mit Kindern bezahlen sogar über 2100 Franken mehr. Eingerechnet wurden Steuern auf allen Ebenen.
Nun nimmt die Politik einen neuen Anlauf. Am Mittwoch reicht die Mitte gleich zwei Volksinitiativen zur Abschaffung der Heiratsstrafe ein.
Eine Initiative verlangt, dass Verheiratete dieselben AHV-Renten erhalten wie Unverheiratete. Statt wie heute maximal 150 Prozent des AHV-Höchstbetrags also 200 Prozent. Die andere Initiative verlangt «faire Steuern»: Ehepaare sollen wie heute eine gemeinsame Steuererklärung ausfüllen. Neu aber soll die Steuerverwaltung eine alternative Berechnung erstellen, die der Besteuerung von unverheirateten Paaren entspricht. Bezahlen müsste ein Paar dann die günstigere Variante.
Es ist ein weiterer Anlauf der Mitte, die Heiratsstrafe zu eliminieren. 2016 hatte die Stimmbevölkerung eine ähnliche Vorlage bachab geschickt. Damals wurde der Partei vorgeworfen, sie würde den Ehebegriff als Verbindung von Mann und Frau in der Verfassung verankern wollen und gleichgeschlechtliche Paare ausklammern. «Den Ehebegriff einzubauen, das war tatsächlich komplett unnötig», sagt Mitte-Ständerätin Marianne Binder heute. Sie kämpft seit Jahren für die Abschaffung der steuerlichen Heiratsstrafe. Und sie war mitverantwortlich dafür, dass das Bundesgericht das Resultat der damaligen Volksabstimmung für ungültig erklärte. Grund war, dass der Bundesrat im Abstimmungsbüchlein nicht korrekt informiert hatte. Nun glaubt Binder, hat die Initiative gute Chancen.
Doch die Partei wurde in der Zwischenzeit überholt. Eine Initiative der FDP-Frauen verlangt nämlich ebenfalls die Abschaffung der Heiratsstrafe, und zwar durch die Individualbesteuerung. Das Modell, das eine getrennte Steuererklärung und -bezahlung verlangt, wird auch von der GLP und linken Exponentinnen und Exponenten unterstützt. Der Bundesrat hat vor wenigen Wochen einen indirekten Gegenvorschlag präsentiert.
Konservativ oder modern?
Auch die Wirtschaft unterstützt die Individualbesteuerung, weil sie Frauen zu höheren Arbeitspensen motivieren soll. Heute lohnt sich das Arbeiten für Zweitverdiener finanziell oft kaum, weil vom Lohn wegen der Steuerprogression wenig übrig bleibt. Das betrifft häufiger Frauen.
Nun kommt die Mitte, die Ehepaare in ihrem Modell noch immer als Wirtschaftsgemeinschaft betrachtet. Ist das nicht veraltet? Karin Stadelmann widerspricht. Die Luzernerin ist Kantonsrätin und Mitglied des Mitte-Parteipräsidiums und kämpft an vorderster Front für die Initiative.
«Unser Modell ist modern und überlässt es den Paaren, wie sie ihre Pensen aufteilen.»
Bei der Individualbesteuerung würden nämlich vor allem jene mit hohem Pensum und hohem Lohn profitieren. Im Mitte-Modell spiele es keine Rolle, wer wie viel arbeite – weil die Paare zum gleichen Tarif besteuert würden wie im Konkubinat.
Auch müssten sie nicht entscheiden, wer sich welche gemeinsamen Vermögenswerte anrechnet, Kinderzulagen und so weiter. «Das kann auch Männer zu tieferen und Frauen wiederum zu höheren Pensen motivieren», glaubt Stadelmann.
Mitte bevorzugt verheiratete Paare
Was die Mitte hingegen nicht erwähnt: Mit der Initiative würden Ehepaare unter gewissen Umständen gegenüber Unverheirateten bevorzugt respektive es bleiben. Es gibt nämlich auch den sogenannten Heiratsbonus, von dem gemäss Angaben des Bundesrats von 2019 rund 380’000 Ehepaare profitieren. Vor allem Einverdiener-Ehepaare wegen des günstigeren Verheirateten-Tarifs.
Es ist unter anderem der Grund, warum sich Steuerrechtsprofessorin Andrea Opel für die Individualbesteuerung starkmacht. «Da das Modell der alternativen Steuerberechnung nur bei Ehepaaren greift, erweist es sich – anders als die Individualbesteuerung – nicht als zivilstandsneutral.» Es führe zur Bevorzugung verheirateter Paare.
«Weiter vermeidet die alternative Steuerberechnung negative Erwerbsanreize nicht konsequent. Was noch dadurch verstärkt wird, dass das System nur auf Bundesebene umgesetzt werden soll.» Trotzdem würde auch die alternative Steuerberechnung eine klare Verbesserung gegenüber dem Status quo darstellen, sagt Opel.
Welches Modell politisch bessere Chancen hat, lässt sich noch nicht sagen. Die Mehrheit der Kantone hat sich bereits gegen die Individualbesteuerung gestellt. Mit der Begründung, dass sie einen fundamentalen Umbau des Steuersystems bedeuten würde. Auch würde die Umsetzung lange dauern – der Bundesrat will den Kantonen zehn Jahre Zeit geben.
Doch auch das Modell der Mitte, das eine alternative Steuerrechnung verlangt, würde administrativen Mehraufwand bedeuten. Gemäss der Eidgenössischen Steuerverwaltung aber nur für die Steuerämter – nicht für die Paare, die bei einer Individualbesteuerung wieder einzeln die Steuererklärung ausfüllen müssten. Oder dürften – je nach Perspektive.
Dies ist ein Artikel vom Tagesanzeiger, der am 26.03.2024 publizert wurde.
"Ich finde es unfair, dass verheiratete Paare steuerlich benachteiligt werden. Ich möchte aus Liebe heraus entscheiden, zu heiraten, und nicht aus finanziellen Gründen abwägen müssen." - Karin Stadelmann